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Prof. Dr. Simon Hahnzog – Systemische Beratung: Zirkulärer Ansatz
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Prof. Dr. Simon Hahnzog – Systemische Beratung:
Die zirkuläre Perspektive –
das Mailänder Modell
In der zwischenmenschlichen Kommunikation stecken viel mehr Informationen als nur Sachinhalte (→ vgl. Kommunikationsmodell von Schulz v. Thun). Eine Methode, die die Gruppe um Mara Selvini-Palazzoli in den 70er Jahren unter diesem Aspekt entwickelte, ist das zirkuläre Fragen – eine der zentralsten Methoden in der systemischen Beratung.
Im Gegensatz zu linearen Fragen, bei denen jemand über sein eigenes Empfinden, seine Einstellung oder sein Wissen das ihn selbst betrifft befragt wird, wird der Klient bei zirkulären Fragen gebeten, seine Einschätzung über das das Verhalten anderer wieder zu geben:
- „Was glauben Sie, wie es Ihrem Kollegen geht, wenn Sie sich mit Vorgesetzten streiten?“
- „Was würde Ihr bester Freund über Ihr Verhalten sagen?“
- „Wie würde Ihr Kunde die Zusammenarbeit mit Ihnen beschreiben?“
Der Fokus liegt hier also auf den Beziehungen zwischen den Einzelnen und deren Sensibilisierung für die gegenseitige Wechselwirkung von Interaktionen.
Das Problem oder das Symptom übernimmt in der Beziehungsgestaltung des Systems eine zentrale Rolle und oft stellt die „Abschaffung“ des Problems für einzelne oder alle Beteiligten eine Gefahr dar. Probleme tragen also dazu bei, dass die Systemmitglieder ihre Beziehung aufrechterhalten können (beziehungsgestaltende Funktion).
→ Symptome gehören allen und sind keine Eigenschaften einzelner Personen!
Hierzu wurde eine weitere wichtige Methode entwickelt, das Externalisieren: Das Symptom erhält einen eigenständigen Platz im System, es wird als „Systemmitglied“ anerkannt, das auch immer eine Funktion hat, die es zu schützen gilt (→ siehe auch narrativer Ansatz).
Die Beraterin sieht sich in diesem Setting als „allparteilich“. Das heißt sie lässt sich gar nicht erst auf die illusorische Bedingung ein, unparteiisch sein zu müssen, sondern ist in gleichen Teilen für jeden der Anwesenden oder auch Nicht-Anwesenden parteilich – eingeschlossen sich selbst!
Auch gegenüber Haltungen und Lösungen sollte sich der Berater neutral zeigen. Über die Zusammenhänge von einzelnen Phänomenen können lediglich Hypothesen aufgestellt werden, die der Berater (offen oder verdeckt) nutzen kann, um Fragen zu generieren. Hypothesen sind vorläufige Annahmen über einen Sachverhalt.
Diese müssen im Beratungsprozess nicht „wahr“ sein, entscheidend ist, dass sie hilfreich sind, d.h.
- Vielfalt der Perspektiven erweitern
- Neue Sichtweisen anregen
- Struktur schaffen.
Im Idealfall verknüpft eine Hypothese gute Absicht und unerwünschte Folgen eines Verhaltens oder das Problem und seine positiven Nebenwirkungen.
→ Vorsicht: Gefahr der Wahrheitssuche und „Verliebtheit“ in eigene Hypothesen!
Das klassische Setting des Mailänder Ansatzes besteht aus zwei Beratungsräumen, die mit einer Einwegscheibe getrennt sind. Klientensystem und ein oder mehrere aktive Berater führen in einem Raum das Gespräch und werden von beobachtenden Beraterinnen aus dem anderen Raum heraus beobachtet. Diese können jederzeit (über Telefon) Kontakt mit den aktiven Beratern aufnehmen und sie auf weitere mögliche Perspektiven hinweisen.
Gegen Ende der Sitzung besprechen sich alle Berater bzgl. einer Intervention (z.B. Verhaltensverschreibungen), die dem Klientensystem anschließend mitgegeben wird. Es wird angenommen, dass die Wirkung der Beratung „zwischen den Sitzungen“ stattfindet, weshalb auch zwischen den einzelnen Sitzungen oft mehrere Monate liegen.
Das Mailänder Team spaltete sich bezüglich unterschiedlicher Auffassungen zur Kybernetik 2. Ordnung. Die eine Teilgruppe konzentrierte sich zunehmend auf die Entwicklung der „richtigen“ Interventionen. Die andere hingegen begann kritisch zu hinterfragen, wie die Therapeuten einerseits systemisches Denken propagieren können und sich andererseits verhalten, als wenn sie selbst nicht Teil des Systems seien. Wenn sie sich aber als Teil des Systems verstehen, wie können sie versuchen, das System in einer Weise zu verändern, als seien sie draußen?
Aus dieser Sichtweise entstand u.a. die Methode des Reflecting Team (Tom Andersen): Hierbei tauschen Klienten und Berater die Plätze, so dass die Beratungssuchenden die Diskussion der Berater verfolgen können. Diese greifen wertschätzende Konnotationen des vorher stattgefundenen Beratungsgesprächs auf, hinterfragen Gewissheiten, stellen neue Sichtweisen als Hypothesen vor etc. Anschließend wird durch die Klienten rückgemeldet, ob und wenn ja welche Inhalte hilfreich waren.